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75 Prozent unbekannt: Erst wenn wir wissen, wo Infektionsherde sind, erst dann können wir gezielter steuern und lockern

2. November 2020 Posted by Stefan Pfeiffer

Gibt es denn noch ein anderes Thema außer Corona? Wohl eher nicht. Und das liegt aus meiner Sicht auch an einer gefährlichen Mixtur von Unvernunft, Dummheit, Ignoranz, Randale, Polizeifeindlichkeit, auf-nichts-verzichten-wollen und ich habe bestimmt das ein oder andere vergessen. Beim Doc habe ich dann gezwitschert – und man verzeihe mir den Typo_ „Ich habe gerade den Eindruck, dass 15 – 20 % der (deutschen) Bevölkerung den Wellenbrecher torpedieren und alle weiter in die braune Masse reiten.

Und es ist eben keine homogene Gruppe, wie man dem Newsletter von Captain Cork (ein Newsletter rund um Wein) entnehmen kann:

„Der Captain flanierte heute durch seinen Kiez (Berlin-Charlottenburg) und traute seinen Augen nicht. Da saßen junge, gut gekleidete Leute dicht an dicht in den engen Lokalen an der trendigen Kantstraße und freuten sich des Lebens. Von wegen bildungsferne Corona-Ignoranten in den Problembezirken. Der Wahnsinn findet mitten im klimabewegten und iphonebewehrten Fortschrittsmilieu statt. Ähnliches berichtet auch mein Mitverkoster, Journalist und Buchautor Rainer Balcerowiak, aus seinem Kiez (Moabit). Ich zitiere aus Rainers Facebook-Post: Die türkischen und arabischen Cafés sind rappelvoll. Abstandsregeln gelten hier wohl nicht, weder drinnen noch draußen. In und vor allem vor den hippen Cafés in den Seitenstraßen sieht es nicht viel besser aus. Und von der seit gestern geltenden Maskenpflicht auf der Turmstraße scheint niemand etwas gehört zu haben.“

💀😷🙈 Irrsinn vor der Sperrstunde 💩😷🙀 – Captain Cork, VINOLetter, 1.11.2020

Und der Wahnsinn und der Hass ist nicht weit weg, eben nicht nur an der Hauptwache in Frankfurt, sondern auch „dahoam“:

In Darmstadt-Eberstadt wurde am Samstagnachmittag ein Polizeiwagen mit Knallkörpern beworfen. … Laut einem Polizeisprecher war gegen 17 Uhr der Einsatzzentrale im Polizeipräsidium Südhessen in Darmstadt gemeldet worden, dass in der Kirchtannensiedlung Böller gezündet würden. Als eine Streifenwagenbesatzung eine Gruppe von etwa 100 Personen über Lautsprecher auf Verstöße gegen die Corona-Verordnung hingewiesen habe, sei der Polizeiwagen mit Böllern beworfen worden.

Mit Unterstützung von weiteren Streifenwagenbesatzungen seien daraufhin 23 überwiegend minderjährige Personen vorläufig festgenommen worden. Bei einer Person fanden die Beamten Knallkörper. Alle Personen wurden nach Feststellung der Identitäten wieder nach Hause entlassen. Die Beamten des Streifenwagens wurden nicht verletzt. Die Polizei ermittelt nun wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs.

Randale in Frankfurt und Darmstadt | Rhein-Main

Dazu Dirk Roebers:

Mein Gefühl sagt mir, dass wir unsere Chance verspielen, die Welle zu brechen, wir die Zahlen vielleicht durch die Einschränkungen der kommenden 4 Wochen runter bekommen, es aber danach wieder zu einem Swing-back kommen wird. Eine endlose Geschichte, weil es an Disziplin und Einsicht fehlt? Ich kann Künstlerinnen und Künstler verstehen, ich kann Sportlerinnen und Sportler verstehen. Ich verstehe die Existenzängste der Selbständigen und vieler anderer, der Restaurant- und Kneipenbesitzer:innen. Aber ich sehe die Alternative nicht.

Australien scheint die Pandemie durch einen monatelangen Lockdown in den Griff bekommen zu haben. Es steht zu befürchten, dass wir vor uns hin wurschteln und wieder schneller lockern werden. Auch hier gibt es den Kantönligeist genannt Bundesländerli – und Wahlkampfgeist. Wie findet man die Balance zwischen vielleicht berechtigter Kritik an einzelnen Punkten der Einschränkungen und einer andererseits notwendigen Eindämmung der Ansteckungszahlen? Wie verhindert man wieder einen Flickenteppich an Regelungen und zu schnelle Lockerungen?

Nochmals zur Erinnerung:

  1. Wir müssen schauen, dass wir die Intensivstationen und die Krankenhäuser nicht überfordern. Das ist eine der wesentliche Parameter, vielleicht der wichtigste Parameter.
  2. Wir wissen bei 75 Prozent derjenigen, die sich anstecken nicht, wo sie sich anstecken. Wie viele stecken sich wirklich in Restaurants, im Nahverkehr, in Fitnessstudios, in Theater und Kinos oder in Schulen und Kitas an?

Die hohe Dunkelziffer macht es schwierig, gezielt Beschränkungen einzuführen. Genau deshalb gibt es eine Gießkanne von Einschränkungen. Und offensichtlich sind wir in der Nachverfolgung derzeit überfordert. Hier muss einfach durch ein Bündel von Massnahmen von der Corona-Warn-App, die jeder nutzen sollte, bis hin zu einer vernünftigen Digitalisierung der Gesundheitsämter und Praxen eine Menge passieren. Erst wenn wir wissen, wo Infektionsherde sind, erst dann können wir gezielter steuern, finde ich. Dafür scheint bei großen Teilen der Bevölkerung das Verständnis zu fehlen.

(Stefan Pfeiffer)

Bild von J Garget auf Pixabay

Ja, wir brauchen Solidarität mit Politikern, die Flagge zeigen, aber wir brauchen noch viel mehr – Replik auf Gustav Seibt

21. Juni 2019 Posted by Stefan Pfeiffer

Ich erinnere mich noch gut an meine Zeit als freier Journalist bei der WNZ, wo ich das Handwerk lernte und mir einige Mark dazu verdiente. Nach kurzer Zeit lernte ich die Lokalpolitiker und deren Alltagsgeschäft näher kennen. Mehrere Abende – meist am Freitag oder Wochenende – habe ich den damaligen Landrat Gerhard Bökel quasi verfolgt … von einer Karnevalssitzung zur nächsten. Drei oder vier Sitzungen haben wir gemeinsame besucht. Eigentlich hätten wir ein Auto nehmen können.

Oder ich habe über die Lokalpolitik in meinem Heimatort –  4 Orte, die zu einer Stadt zusammengeschlossen wurden – berichtet und beobachtet. Sehr oft ging es dort doch nach dem Motto, wenn Du dem Bau des Sportplatzes in Ort A zustimmst, bekommt Ort B im kommenden Jahr das Feuerwehrhaus durchgewunken. Persönlicher Höhepunkt war dann vor einer Kommunalwahl, als Vertreter dreier unterschiedlicher Parteien mich fragten, ob ich nicht für sie kandidieren wolle.

Lokalpolitik ist auch hartes Brot. Man lernt das Geben und Nehmen und die Kunst des politischen Kompromisses, auch etwas die Interessenpolitik und das Geschachere. Doch Lokalpolitik ist notwendig. Man ist ganz nahe am Bürger und kann direkt vor Ort wirken und auch Ergebnisse sehen. Wie viele andere habe ich mich aber nicht durch gerungen, mich lokal in der Politik und in einer Partei zu engagieren. Vielleicht habe ich mich als zu gut dafür gehalten oder manche Kleingeisterei hat mich abgeschreckt. Ist jetzt auch egal.

Was nicht erst seit dem Mord an Lübcke erschreckend ist, ist jedoch, dass Lokalpolitiker/innen und Politiker/innen generell mit Schmutz beworfen, nicht mehr nur verbal sondern auch real angegriffen werden. Gustav Seibt – deutscher Historiker, Literaturkritiker, Schriftsteller und Journalist – hat das Thema in der Süddeutschen Zeitung in einem ausführlichen Artikel aufgegriffen.

An der Basis ist unser politisches System ziemlich wehrlos. Sollen sich Bürgermeister und Landräte nicht mehr auf Dorffeste trauen können, wenn sie Entscheidungen treffen, die einem radikalisierten Teil der Bürgerschaft nicht gefallen? Das hätte verheerende Folgen fürs Funktionieren von Politik und kommunaler Selbstverwaltung.

Er schließt seinen Beitrag mit folgendem Satz:

Wenn Politiker vor Ort bedroht, gar ermordet werden, wenn die Grundvoraussetzung der Ordnung, das staatliche Gewaltmonopol herausgefordert wird, dann ist es Zeit für eine Solidarität, die sich nicht im Symbolischen erschöpft.

über Kriminalität: Und wenn keiner mehr den Job machen will? – Kultur – Süddeutsche.de

Das kann ich nur unterschreiben. Und es gilt nicht nur für Politiker/innen, sondern auch für  Meinungsführer/innen und Journalisten/innen wie eine Ferda Ataman oder eine Dunya Hayali. Das sollte nicht sein. Das kann nicht sein. Da muss man sich solidarisch erklären und das auch bekunden. Und die Angriffe müssen auch strafrechtlich verfolgt werden.

Ich persönlich weiß nicht, ob ich diese Art und den Ton der verbalen Anfeindungen, der Gossensprache und des blanken Hasses und der Dummheit ertragen könnte und wie schnell ich in meiner Höhle verschwinden, in meiner Privattheit abtauchen und mich zurückziehen würde. Ich kann nochmals den Hut vor allen ziehen, die Flagge zeigen und gegen halten.

Doch wie erklärt man sich solidarisch? Wie zeigt man Flagge? Gustav Seibt als ein klassischer Vertreter seiner, äh meiner Generation fordert dazu auf, in die Parteien zu gehen und sich dort zu engagieren. Sich nur mal im Netz und in den sozialen Medien zu äußern, reiche nicht aus, ja sei nur eine Art Symbolik und Ersatzpolitik, Das florierende Genre der Social-Media-Kritik kennzeichnet er als hinterwäldlerisch.

Na ja, umgedreht sehe ich in diesen Aussagen von Seibt auch etwas Hinterwäldlerisches. Gerade meine, unsere Generation, auch die politischen Parteien haben noch immer nicht verstanden, dass „das Netz“ in all seinen negativen wie auch positiven Ausprägungen heute politische Realität und auch Ort der politischen Manifestation und Bildung von Meinung ist. Die Meinungsmacht verlagert sich langsam aber sicher ins Netz, wie eine aktuelle Studie gerade (wieder) bestätigt. Das sollte man einfach so abtun, schlecht reden, sondern vielmehr überlegen, wie man „das Netz“ für demokratische Kräfte zurückerobert und in den politischen Diskurs konstruktiver integriert.

Politische Meinungsbildung findet heute nicht mehr nur in der Süddeutschen, FAZ oder in der BILD statt. Es reicht nicht mehr nur, seine Birne in die Fernsehkameras von ARD und ZDF zu halten und damit hat man „die Wähler“ erreicht. „Das Netz“ ist gerade bei den Jüngeren gesetzt. Und Ihr ewig Gestrigen seht das endlich mal ein und lasst uns gemeinsam die Chancen ergreifen und die Auswüchse konsequent bekämpfen! Wir dürfen „das Netz“ nicht der AfD, anderen politisch extremen Strömungen oder auch Datenkraken und -monopolen überlassen. Dort, im Netz, entscheidet sich einer großer Teile unserer politischen Zukunft.

Und den Ausspruch und die Aufforderung mal brav wieder in Parteien zu gehen und sich dort zu engagieren, kann ich persönlich zugegebenermaßen auch kaum noch hören. Bis auf eine Partei, die gerade „ge-hyped“ wird und deren Mitglieder und Politiker bald in der regierenden Realpolitik harten Herausforderungen an ihr Selbstverständnis begegnen werden, stoßen mich (und viele andere) die etablierten Parteien immer wieder und sehr konsequent ab. Klöckner und Nestlé oder Unionsfreund Scheuer und seine Verschwörungstheorien sind ebenso abtörnend wie das Versagen in der SPD oder die wirren neoliberalen Sprüche von Politikprofi Lindner.

Wenn Parteien wieder mehr Mitglieder haben wollen, müssen sie sich ändern, im Verhalten ihrer Führungsspitze, wie auch in den Möglichkeiten, sich gegenüber politisch Interessierten zu öffnen und diese in Diskussionen einzubinden. Ich zweifele daran, dass „die Parteien“ derzeit „die junge Generation“, die gerade bei Fridays for Future demonstriert oder sich das Rezo-Video „reinzieht“, abholen kann und wird.

Gerade aber „die Jüngeren“ braucht unsere Demokratie. Die haben durchaus – um mit dem Video der DFB Fußballfrauen zu sprechen – nicht nur Eier in der Hose, sondern auch einen Pferdeschwanz. Sie gehen nämlich auf die Straße und zeigen Flagge, etwas was meine, unsere Generation aus vielen von Seibt beschriebenen Gründen nicht mehr oder zu wenig tut. „Diese Jungen“ machen mir echt Mut. Der Pöbel von AfD und Konsorten macht mir Angst.

Relevante Fragen sind also aus meiner Sicht:

  • Wie öffnen wir „die Politik“ wieder für die jüngere Generation und ermögliche ihnen aktive Partizipation auch jenseits der gewohnten Parteipolitik und -zugehörigkeit?
  • Wie öffnen sich „die Parteien“ für politisch Interessierte, Jüngere und Ältere, und schrecken nicht nur ab?
  • Wie integrieren wir „das Netz“ konstruktiv in die politische Diskussion, statt es als Hort der Verdammnis Radikalen und Kommerz zu überlassen?

In diesen Fragen spielt meiner Meinung nach viel Musik.

(Stefan Pfeiffer)